-------------------------------------- Die "Jahr-2000-Wanze" in Deutschland: Status der Vorbereitungen, Restrisiken -------------------------------------- Klaus Brunnstein (Universitaet Hamburg) Chaos Computer Congress: Berlin 28.12.1999 (Kurzfassung des Vortrages) Nur noch 3 Tage bis zum "Rollover" sind viele Deutsche (nach Umfragen ca. 70%) davon überzeugt, dass der "Y2k Bug" keine groesseren Folgen haben wird. Waehrend in USA und andernortes eine gewisse Hysterie zu beobachten ist (die auch in der Furcht vor Hackerangriffen und vor Verbreitung sog. "Y2k-Viren/Würmer" von einzelnen Sicherheitsfirmen genaehrt wird), hat sich die Politik der Bundesregierung offenbar "bewaehrt", das Problem schoen zu reden. Diese hat bekanntlich eine vormals kritische Berichterstattung der Zeitung "Die Woche" aufgekauft, um alle kritischen Anmerkungen entreichert und in bunter Aufmachung in 10-Mio-Auflage unter das Volk gestreut. Verglichen mit anderen Ländern (USA, England u.a.) ist diese "Information" nicht nur unverhältnismässig spaet (Ende November 1999), sondern mit einer Vielzahl irrefuehrender Informationen verteilt worden. Generell ist festzustellen, dass die Bundesregierung (auch schon die "alte" vor September 1998) - anders als andere Länder - nicht für die notwendige Aufklärung über die Bedeutung des Problemes gesorgt hat. Weil hierzulande weder ein gesetzlicher Zwang (wie in USA) noch eine "Kultur" der sachgerechten Aufklärung besteht, bescheinigt sich jedes Unternehmen selbst, dass seine DV-Anlagen und "eingebetteten Systeme" Y2k-konform seien (Prinzip der "Selbst- Zertifizierung"). Dieses wird z.T. unterstützt durch sog. "Y2k- Zertifikate" einzelner TÜVs, die sich bei näherem Hinsehen als wenig aussageträchtig (um keine schärfere Formulierung zu gebrauchen) erweisen. Überdies fehlen hierzulande unabhängige Instanzen mit hinreichender Kompetenz, wie dies etwa die "Institution of Electrical Engineers (IEE)" in England sowie Organisationen in USA sind; deren Internet-Seiten werden zur aufklärenden Lektüre empfohlen. Der Vortrag beim CCC gibt einen Überblick über den Stand der Y2k- Vorbereitungen und die "Restrisiken" in ausgewählten kritischen Bereichen: 1) Elektrizitätswirtschaft: die Behauptung, dass die KKWs keine Computer oder Mikroprozessoren in kritischen Bereichen enthalten, hält einer Überprüfung nicht stand. Vielmehr werden auch im Bereich der Notfallbeherrschung Mikroprozessoren (für Messwertwandlung) eingesetzt, dazu Siemens-Computer in der Leittechnik von 2 KKWs. Die Verfahren der Softwareprüfung sind nicht geeignet, das von Betreibern und Gutachtern behauptete "sehr geringe Restrisiko" sicherzustellen. Ein Zusatzgutachten (wie vom Referenten vorgeschlagen, der als "Bürger Brunnstein" keine Einsicht in die Gutachten erhielt :-) wird am 29.12.1999 von der Reaktor-Sicherheitskommission behandelt. Im übrigen haben einzelne Länder (z.B. Schleswig-Holstein) angeordnet, dass die KKWs auf 50%-60% heruntergefahren werden, um die Risiken des Abschaltens bei eventuellem Lastabwurf zu reduzieren. Bei der Notfallvorsorge verlaesst man sich hierzulande darauf, dass die traditionelle "fest-verdrahtete" Sicherheitstechnik (Schnellabschaltung durch Lösen elektrischer Relais, worauf die Bremsstäbe in den Reaktorkern fallen und durch Absorption der thermischen Neutronen die Kettenreaktion unterbrochen wird) auch dann funktioniert, wenn irgendwo ein Y2k-Effekt auftreten sollte. Während aber wichtige Länder (wie England, Russland, China, Japan und die USA) auf einer Tagung der Internationalen Atom- Energie-Agentur (IAEA: siehe www.iaea.org) über den Stand der Y2k-Vorbereitungen und ihre Notfallpläne berichteten, hielt Deutschland eine Teilnahme an dieser Tagung (2.-4.11.1999 Wien) nicht für geboten. Bei den herkömmlichen Kraftwerken (auf Kohle-, Erdölbasis etc) hat es offenbar Überprüfungen und Y2k-Korrekturen gegeben; in einzelnen Fällen (etwa der BEWAG Berlin) ist die Y2k-Konformität auch durch Tests demonstriert worden. Weil viele grosse Strom- kunden nicht am Netz sein werden (z.T. wegen Nutzung der eigenen Industriekraftwerke, z.T. wegen Betriebsruhe), dürften die her- kömmlichen Kraftwerke auch genügend Strom erzeugen, so dass ein eventuelles Abschalten einzelner KKWs inkauf genommen werden kann. Unkalkulierbare Restrisiken bestehen allerdings in der Schaltechnik des Westeuropaeischen (UCTE) Stromverbundes. Bei Y2k-Versuchen sind offenbar Fehler entdeckt worden; nach deren Behebung sollen Simulationen den zuverlässigen Betrieb sichergestellt haben. Zwar wird die Primärenergiereserve von 3000 MW auf 6000 MW verdoppelt; ferner wird nachmittags das Verbundnetz nach der Strategie "Sicherheit vor Wirtschaftlichkeit" (statt normal im "Stromhandelsmodus") gefahren. Aber Vorschläge, die Netze vorsorglich zu trennen ("Inselbetrieb") und nach dem Rollover bei stabilen einzelnen Netzen schrittweise wieder zusammenzuschalten, werden hierzulande generell abgelehnt. Inwiefern KKWs etwa in Osteuropa als Y2k-konform zu bewerten sind, ist ungewiss. Nach IAEA-Information waren im November "nur" drei osteuropaeische KKWs "noch nicht Y2k-konform" (insgesamt sind weltweit 434 Reaktoren mit 349 GigaWatt Leistung im Betrieb, davon zahlreiche in Ländern mit Problemen in der technischen Infrastruktur). Die Angaben der Stromwirtschaft zur Y2k-Konformität der KKWs und des Stromnetzes beruhen auf Selbst-Zertifizierung und sind nicht hinreichend überprüfbar, Zweifel sind angesichts kritischer Indizien aber angebracht. Wegen des Schlüssel- charakters der Stromwirtschaft können sich Auswirkungen auf alle anderen Branchen ergeben; hinsichtlich der Folgen ist dann u.U. mit Rechtsstreiten zu rechnen. 2) Telekommunikation: Hinsichtlich der Ortsvermittlungsstellen der Deutschen Telekom sind keine grösseren Probleme zu erwarten; hier ist davon auszugehen, dass die eigene Testtechnik der Schalt-Computer die Y2k-Konformität ausreichend sichergestellt hat, und man hat eigene, hinreichend kompetente Techniker zur Behebung unerwarteter Vorfälle. Allerdings ist die Information der Deutschen Telekom über Details noch "entwicklungsbedürftig" :-). Jedoch hat die Deutsche Telekom deutlich weniger internationale Tests durchgeführt (im wesentlichen zwei im Global One-Verbund mit Nordamerika/Westeuropa, dazu einen Test mit Schweden und Hongkong), wie die umfangreiche Internetseite der Internationalen Telekom-Vereinigung (www.itu.org) nachweist. Es darf daher nicht als gesichert gelten, dass Telefonate nach Ost- und Südeuropa, Afrika, Asien und Südamerika funktionieren. Weil Telefon- gesellschaften in USA, England und einzelnen Nachbarländern gemäss ITU-Information viel ausgiebiger gestestet haben, sollte man dringliche Telefonate in die erwähnten Regionen ggfs. über aus- ländische Provider führen. Ebenso wie die Deutsche Telekom halten sich auch die Betreiber von GSM-Netzen mit konkreten Angaben zurück, mit denen die jeweilige (behauptete) Y2k-Konformität beurteilt werden kann. Die GSM-Technik ist noch mehr von funktionierenden Computern und Chips abhängig; die Information der Diensteanbieter ist als unzureichend anzusehen. 3) Geldwirtschaft: Neben der Versicherungswirtschaft hat die Geld- wirtschaft zweifelsohne am frühesten (erste Institute ab 1995/96) begonnen und am meisten an Kompetenz und Aufwand in Analyse und Behebung eventueller Y2k-Effekte investiert. Im Juni 1999 wurde im weltweiten "Global Street Test" (an dem ca. 170 Banken in etwa 16 Ländern teilnahmen) nachgewiesen, dass die Grossrechner- Anwendung "Schalterdienst" und die Übertragung von Überweisungen über das SWIFT-Netz als Y2k-konform zu gelten haben. Restrisiken sehen Finanzexperten in zahlreichen kleinen Banken in Drittländern, da der weltweite Finanzverbund auch durch einzelne Institute beein- trächtigt werden kann, wie etwa die Herstattkrise und jüngst die Baringskrise gezeigt haben. Weiterhin hält Edward Yardeni (Deutsche Bank New York) eine weltweite Rezession für möglich. (Übrigens wird Yardeni seitens der Bundesregierung zu Unrecht mit der Feststellung zitiert, in Deutschland sei alles bestens; Yardeni bestreitet, solches je gesagt zu haben, weil ihm auch nicht hinreichend Details bekannt seien. Es ist bedenklich, dass eine Regierungsstelle zu solchen Fehlinformationen greift). Nur wenige Institute haben Online-Banking und die Filialsysteme (oft Windows NT) ausreichend getestet; im letzteren Bereich werden allerdings personelle Ressourcen ab 1.1.2000 vor Öffnung der Filialen die Systeme testen und ggfs. manuelle Verfahren (Beratung nach letzten Ausdrucken) sicherstellen. Inwiefern die Haustechnik (z.B. Zugang zu Filialen und Tresoren, Steuerung von Aufzügen) mit ihren "embedded systems" als Y2k-konform gelten kann, ist mangels ein- schlägiger Informationen schwer zu beurteilen; als sicher darf gelten, dass die Notstromaggregate überprüft wurden, sie werden hoffentlich auch funktionieren :-). Erhebliche wirtschaftliche Risiken sieht aber die Kreditwirtschaft. Weil viele - vor allem kleine und mittlere - Unternehmen sich gar nicht oder unzureichend vorbereitet haben, werden vermehrt Insolvenzen erwartet, und es dürfte zu fühlbaren Ausfällen von Krediten kommen. Insofern kann ein Einfluss auf die wirtschaftliche Produktivität sowie auf den Arbeitsmarkt nicht ausgeschlossen werden. Die Bewertung von Bundeswirtschaftsminister Müller, es könne lediglich eine "kleine Delle" in der Konjunktur geben, danach gehe es umso kräftiger aufwärts, erscheint auch deswegen unplausibel, weil die finanzwirtschaftlichen Effekte sich bis in das Jahr 2001 auswirken dürften. Es ist deshalb auch nicht auszuschliessen, dass es nach - vermutlich verzögertem - Bekanntwerden von Y2k-"Unfällen" auch später noch zu Einbrüchen an den Devisen-, Aktionen und Optionen- märkten - weltweit oder in einzelnen Länder - kommen kann. 4) Verkehrswesen: Vorsorglich werden land-gestützte Verkehrssysteme (Züge, Strassenbahnen etc) zum Rollover-Zeitpunkt kurzzeitig still- gelegt. Überirdische Verkehrsmittel dürften im Fluge nicht betroffen sein (Tests haben die Y2k-Konformität der Avionik etwa von Airbus A-320 und Boeing 737-800 Modellen nachgewiesen); inwieweit aber die viel-tausende Embedded Systems in Flughäfen und Flugsicherung Y2k-konform sind, erscheint unsicher, zumal dies nur durch Selbst- aussage bezeugt (und damit schwerlich "nachgewiesen") wurde. 5) Gesundheitswesen: Hier sind die Bedenken weltweit am grössten, und die Risiken sind am schwersten abschätzbar. Die Medizintechnik hat im Wege der Rationalisierung zu einer erheblichen Verdrängung menschlicher in maschinelle Verfahren der Diagnostik, Therapeutik sowie der Administration geführt. Vielkanal-Analysegeräte liefern in kurzer Zeit mehrere Messwerte; die früheren manuell bedienten Verfahren werden heute nicht mehr beherrscht. In Intensivstationen haben Computer die Funktionen der Überwachung ("Monitoring") sowie ggf. der Steuerung von Infusionen übernommen; das fachkundige Pflegepersonal wurde abgebaut. Und wesentliche Informationen sind aus Krankenhaus-Informations-Systemen abrufbar - sofern die Computer funktionieren. Nur in wenigen grossen Krankenhäusern ist Y2k spezifische informatische Kompetenz verfügbar, da Kliniken in Konkurrenz mit besser bezahlenden Bereichen wie Geld- und Versicherungswirtschaft - sich Fachpersonal kaum leisten können (am guten Willen der MitarbeiterInnen mag kein Zweifel bestehen, aber dies reicht für komplexe I&K-Techniken nicht aus :-). Wie in jeder Hinsicht unsachgerecht bei der Y2k-Prüfung vorgegangen wird (vom allzu späten Beginn im Jahre 1998 abgesehen), weist der Fragebogen der Deutschen Krankenhaus-Gesellschaft nach, der mit seinen 5 lapidaren Selbst- erklärungen die Y2k-Konformität methodisch keineswegs nachzuweisen geeignet ist (siehe Y2k-Informationen des Autors). Insgesamt muss festgestellt werden, dass wesentliche Teile der deutschen Wirtschaft sich offenbar nicht bewusst sind, dass die - noch wachsende - Abhängigkeit von den komplexen, oft auch für Fachleute schwer durchschaubaren Informations- und Kommunikationstechniken eine besondere Sorgfalt erfordert. Dies gilt nicht bloss für den "Y2k-Bug", dessen Wirkung zeitlich begrenzt ist. Dagegen wird fehlerträchtige Sofware mit tausenden weiteren "Bugs" die Unternehmen in die zukünftige "Informationswirtschaft" mit zuverlässiger Unzuverlässigkeit begleiten. Unter diesen Umständen dürfte sich die "Y2k-Wanze" später einmal als recht- zeitiges, aber zu gering eingeschätztes Warnzeichen (alias "Menetekel") erweisen. Aber: "Soviele Millionen Lemminge können doch nicht irren!"